NZZ am Sonntag

Schweiz bremst bei Passagierrechten

Flugpassagiere sind in der Schweiz deutlich weniger geschützt als in der EU. Vor allem bei Verspätungen sind die Unterschiede markant.

Birgit Voigt
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Auch dieses Jahr sind wieder viele Flüge ausgefallen oder mussten gestrichen werden. Hier beim Fluglotsenstreik in Frankreich im Frühjahr. (Bild: IAN LANGSDON / Keystone)

Auch dieses Jahr sind wieder viele Flüge ausgefallen oder mussten gestrichen werden. Hier beim Fluglotsenstreik in Frankreich im Frühjahr. (Bild: IAN LANGSDON / Keystone)

Flugpassagiere, die mit einer Airline aus dem EU-Raum fliegen, geniessen hohen richterlichen Schutz. Die Konsumenten in der EU haben eine starke Lobby. Vergangene Woche bestätigte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine von den Fluggesellschaften noch bekämpfte Auslegung des geltenden Passagierrechtes in letzter Instanz.

Demgemäss müssen Airlines von Verspätung oder Ausfall betroffene Passagiere auch dann betreuen und sind schadenersatzpflichtig, wenn die Verspätung aufgrund eines «unerwarteten» technischen Defekts auftritt. Viele Airlines vertraten den Standpunkt, bei solchen ausserordentlichen Ereignissen seien sie nicht in der Pflicht.

Neu stellte das Gericht nun klar, diese Richtlinie gelte auch, wenn der technische Defekt auftrat, obwohl die Airline alle Sorgfaltspflichten erfüllt hat. Der Betrieb von Flugzeugen bringe unausweichlich technische Probleme mit sich, angesichts der komplexen und schwierigen Aufgabe sei auch mit unerwarteten Herausforderungen zu rechnen, das gehöre quasi zum Kerngeschäft, urteilten nun die Richter in Luxemburg. Solch ein Ereignis stelle deshalb keinen Grund dar, den Passagier nicht zu entschädigen.

Überschreitet die Verspätung bei Zielankunft mehr als drei Stunden, können diese Ausgleichszahlungen zwischen 250 und 600 Euro betragen. Nach Ansicht von Jonas Swarzenski, Anwalt und Rechtsberater von Flightright, ist das letztinstanzliche Urteil des EuGH «von essenzieller Bedeutung». Flightright ist ein Inkassounternehmen mit Sitz in Potsdam. Die Firma hat sich darauf spezialisiert, im Auftrag von Passagieren deren Forderungen auf Entschädigung bei Fluggesellschaften in Europa durchzusetzen. «Rund 48% der substanziellen Flugverspätungen oder Flugstornierungen sind auf technische Probleme der Fluggesellschaften zurückzuführen», sagt Swarzenski. Insgesamt wären 1,2% aller Flüge in der EU so beeinträchtigt, dass sie unter die EU-Fluggastrechte-Verordnung fielen. Bei 842 Millionen Passagieren, die 2013 im EU-Raum per Flugzeug unterwegs waren, kommen so gut 10 Millionen Menschen zusammen, die Anspruch auf Entschädigung hätten.

Nur Klagen hilft

Passagieren von Schweizer Fluggesellschaften nützt das neue Urteil allerdings herzlich wenig. Zwar hat die Schweiz die ursprüngliche EU-Richtlinie zur Entschädigung nach Flugausfällen übernommen. Deshalb müssen hiesige Airlines vor allem zahlen, wenn ein Flug storniert wird. Aber die in den letzten Jahren erfolgte Ausdehnung der Entschädigungspflicht auch auf Verspätungen hat die Schweiz nicht mitvollzogen. Dazu kommen andere in der Schweiz umstrittene Fragen zum Geltungsbereich der Richtlinie.

Das bekommen die Passagiere gemäss den Erfahrungen von Swarzenski zu spüren: «Gegen die Swiss müssen wir für die Passagiere fast immer Klage einreichen.» Die Schweizer Gesellschaft unterscheide sich da deutlich von ihrer Schwestergesellschaft im Konzern, der Lufthansa. «Die Lufthansa bearbeitet Fälle schnell, und bei berechtigten Beschwerden zahlen sie die von uns geltend gemachten Ansprüche problemlos», sagt der Rechtsanwalt.

Ein Lufthansa-Sprecher beziffert die Auslagen für Entschädigungen, aber auch Unterbringung von gestrandeten Passagieren und Ähnliches mit «einem tiefen dreistelligen Millionenbetrag». Zusammengerechnet würden die deutschen Fluggesellschaften 130 Mio. € für das Thema ausgeben, rechnet auch der Bundesverband der deutschen Luftverkehrswirtschaft. Die Swiss machte keine Angaben zu den Ausgaben. Auf den Vorwurf, dass sie Kunden schlechterstelle als europäische Konkurrenten, erwidert eine Sprecherin der Swiss: «Kundenfreundlichkeit ist uns ein wichtiges Anliegen und geht unseres Erachtens weit über die Fluggastrechte-Verordnung hinaus.» Swiss befolge «die Rechtsprechung des EuGH im Rahmen des Geltungsbereichs des EU-Rechts».

Mehr Amtsbeschwerden

Trotz dem geringeren Rechtsschutz stellen sich auch in der Schweiz die Passagiere vermehrt auf die Hinterbeine. Dies lässt sich aus dem Anstieg der Beschwerden beim Bundesamt für Zivilluftfahrt herauslesen. 2012 eröffnete das Amt infolge der Kundenklagen 2260 Verfahren gegen Fluggesellschaften. Die Zahl stieg 2014 auf über 3500 Dossiers an. In 312 Fällen hat die Behörde im letzten Jahr dann Bussgeldverfahren gegen Fluggesellschaften eingeleitet, die partout nicht ihre Verpflichtung anerkennen wollten. Grund für die starke Zunahme sei vor allem, dass «die Passagiere heute viel besser über ihre Rechte aufgeklärt sind, als dies in der Vergangenheit der Fall war», sagt der Sprecher des Bazl.

Welche Airlines in der Schweiz besonders häufig mit den Passagierrechten in Konflikt geraten, will er nicht verraten. Die Medienstelle der Swiss antwortete auf die Anfrage, ob sie im letzten Jahr vom Bazl wegen nicht geleisteter Fluggast-Entschädigungen gebüsst worden seien, mit einem sehr trockenen «Nein».